Aktuell | 7. April 2020

Wie beeinflusst die Krise unsere Kultur?

Dr. Christa Uehlinger ist Expertin der interkulturellen Kommunikation und doziert unter anderem im CAS Consulting, Communication & Culture HWZ. Mit uns analysiert sie die aktuelle Situation aus kultureller Sicht. Weshalb Kultur weder positiv noch nachhaltig sein kann, warum uns die Bedeutung von zwischenmenschlichen Kontakten wieder bewusster wird und was wir alle aus der Krise mitnehmen sollten, erzählt sie im Interview.

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Frau Uehlinger, hätten Sie heute etwas geplant, dass Sie aufgrund der aktuellen Situation nicht durchführen können?

Überhaupt nicht. Im Vergleich zu früher lebe ich viel mehr aus dem Moment heraus und nehme die Dinge, wie sie kommen. Das heisst, ich plane auch weniger voraus. Man ist offener und flexibler und es entstehen Momente, die mit Planung gar nicht möglich sind. Das macht mein Leben viel farbiger. Natürlich gab es auch bei mir berufliche Aufträge, die abgesagt oder auf den Herbst verschoben wurden.

Wie gehen Sie persönlich mit der Corona-Krise um?

Ich sehe in dieser Situation eine Chance, denn sie bietet Möglichkeiten und bringt uns Menschen mehr zu uns. Sie entschleunigt und fordert uns heraus, wieder einmal über sich selbst nachzudenken. Wo habe ich Aspekte verdrängt? Weshalb renne ich die ganze Zeit rum und funktioniere nur? Was steckt dahinter, dass ich das tue? Kann ich mit dieser Corona-Zeit umgehen? Gleichzeitig sehe ich auch, was diese Situation alles bewirkt, wie sie Unsicherheit und Ungewissheit hervorruft. Ich finde, es ist eine Zeit, in der man sich selbst gut schauen muss; in der Wohlbefinden und Gelassenheit wichtig sind. Persönlich meditiere ich jeden Morgen und das hilft mir, geankert zu bleiben und aus jedem Tag das Beste zu machen.

Sie sind Expertin der interkulturellen Kommunikation. Wie nehmen Sie die Situation aus der Sicht der Expertin war?

Es gibt einige Aspekte, die mir auffallen. Allgemein gesprochen prägt Kultur uns und definiert innerhalb einer Gruppe von Menschen, was normal und gewohnt ist. Das definiert auch unsere Komfortzone. Wenn wir durch äussere Umstände, wie den Corona-Virus, darin herausgefordert werden, reagieren wir. Das geschieht nun und ich finde es interessant, dies zu beobachten. Als Schweizer mögen wir bspw. Sicherheit und Planung. Nun ist das plötzlich nicht mehr möglich. Unvermittelt muss man als Dozierende beispielsweise online dozieren. Das erfordert Offenheit und Flexibilität. Oder die Schweiz gilt als individualistische Kultur, das heisst, ich bestimme selbst, was ich tue und lasse. Nun werden vom Bund Massnahmen ergriffen und man muss zu Hause bleiben. Was macht das mit dem Einzelnen? Wie reagiert wer, wenn er oder sie in der Komfortzone tangiert ist?

Als weiteres beobachte ich auch gewisse Ausgrenzungstendenzen, was ich sehr bedenklich finde. Es entstehen Vorurteile. Plötzlich zeigt man mit den Fingern auf alte Menschen, die spazieren gehen oder auch auf Jüngere, die sich an nichts halten. Damit wirft man alle in den gleichen Topf und differenziert nicht. Solche Ausgrenzungen dürfen in unserer Welt keinen Platz haben. Es geht jetzt darum, miteinander Wege zu finden.

Ein Virus verändert die Welt – und schränkt die Gesellschaft ein. Viele sitzen Zuhause. Familien verbringen nun fast den ganzen Tag zusammen. Wie wirkt sich das auf die Kultur innerhalb einer Familie aus?

Ja, das Virus verändert die Welt und sie wird nicht mehr so sein, wie vorher. Ich würde jedoch nicht sagen, dass das Virus die Gesellschaft einschränkt. Diese Begrenzung auferlegen wir uns selbst, um diesem Virus die Stirn zu bieten. In Bezug auf Familien beobachte ich Verschiedenes. Einerseits gibt es solche, die es geniessen, endlich Zeit füreinander zu haben und sich auch wieder anders zu entdecken. Es leben Familienwerte auf, die man nicht mehr so gelebt hat. Andererseits gibt es Familien, in denen Schwierigkeiten umso mehr aufbrechen, weil man aufeinandersitzt. Das ist belastend. Im «Worst Case» führt das bis zu Gewalt in Familien – ein tragisches, aber wichtiges, aktuelles Thema. In solchen Fällen sollte man sich nicht scheuen, Unterstützung einzufordern. Momentan kommt also vieles zum Vorschein, dessen man sich im hektischen Alltag nicht mehr bewusst war. Auch das bietet Chancen, auch wenn es nicht immer so einfach ist.

Und wie auf Leute, die alleine leben und nun noch öfters alleine sind?

Das ist sehr individuell. Ich selbst lebe momentan alleine und fühle mich wohl damit. Für meinen Tag habe ich Rituale. Ich bin in Kontakt mit Freunden und Familie über WhatsApp und Zoom. Beispielsweise treffe ich mich wöchentlich mit Freunden zu einem virtuellen Nachtessen. Ich fühle mich überhaupt nicht alleine. Doch kann ich mir gut vorstellen, dass einem die Decke auf den Kopf fallen kann.

Wichtig ist, Wege zu finden, um in Kontakt mit anderen zu bleiben, Beziehungen zu pflegen und auch Erlebnisse, Gefühle sowie Gedanken miteinander zu teilen. Damit wird eine Reihe von psychologischen Ressourcen aktiviert, die sich positiv auswirken. Das Virus forciert uns also, uns echt auf andere einzulassen – mit anderen in Beziehung zu gehen. Falls das Alleinsein jedoch für einige sehr schlimm wird, sollte man keine Hemmungen haben, Hilfe zu beanspruchen.

Sie haben es angesprochen: Treffen mit Freunden finden jetzt virtuell statt anstatt in einer Bar oder an der Seepromenade. Meetings werden nicht mehr in Sitzungszimmern durchgeführt, sondern vor dem Bildschirm. Was macht das mit unserer Kommunikation? Was sind die Vor- und die Nachteile?

Für mich entwickeln sich die Kommunikationsmöglichkeiten weiter. Die virtuellen Möglichkeiten bieten Chancen, fordern einem aber auch zu Selbstverantwortung auf. Zudem geht Kontext verloren. Man nimmt jemanden auf dem Bildschirm anders wahr, als wenn man diese Person in echt sieht. Man spürt sie weniger. Gleichzeitig finde ich es schön zu sehen, dass die Menschen merken, dass sie Menschen sind. Ich höre von verschiedenen Seiten, dass man es vermisst, mit anderen zusammen zu sein, andere zu treffen. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wir werden uns der grossen Bedeutung zwischenmenschlicher Kontakte für unser Zusammenleben und unser Zusammenarbeiten wieder bewusster. Ein virtuelles Nachtessen macht zwar Freude und trotzdem fehlt etwas.

Die Situation zeigt eindrücklich, wie gross die Solidarität zurzeit ist. Menschen helfen sich gegenseitig und machen sich Mut. Viele haben nun aber auch Zeit, sich bewusster mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen. Man sieht, wie privilegiert wir grundsätzlich sind. Dadurch lernen wir vielleicht auch wieder, die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu schätzen. Kann es nicht sein, dass sich dadurch unsere Kultur im positiven verändern wird? Vielleicht auch in eine nachhaltigere Richtung?

Grundsätzlich ist Kultur nichts Statisches, sondern entwickelt sich immer weiter. Das zeigt die momentane Zeit eindrücklich auf. Kultur hilft, in einem bestimmten Umfeld zu überleben. Das Virus führt dazu, dass andere Wertehaltungen erforderlich sind und man nicht wie bis anhin weitermachen kann. Wenn man sich zum Beispiel nicht mehr mit Handschlag oder durch Umarmung begrüssen kann, entwickeln sich neue Begrüssungsrituale. Alle Aspekte, die sie in der Frage ansprechen, führen nun dazu, dass sich Werte fortentwickeln oder auch solche wieder zum Tragen kommen, die zuvor weniger Gültigkeit hatten. Zu beachten ist jedoch, dass Kultur ist. Sie ist weder positiv noch nachhaltig. Solche wertenden Zuschreibungen sind eigene Wahrnehmungen oder Wünsche auf diese Entwicklung. Wichtig ist vielmehr auf die Werteebene zu blicken und zu sehen, dass beispielsweise der Wert der Nachhaltigkeit in der Gesellschaft mehr zum Tragen kommt. Ein kleiner, aber feiner Unterschied.

Was meinen Sie, was nehmen wir alle aus dieser Krise mit?

Das ist eine gute Frage, die wahrscheinlich jeder und jede anders beantwortet. Ich hoffe, dass die Menschen erkennen, wie viel Schönes im Leben liegt, wenn man aus dem stressigen Hamsterrad herauskommt, dass es wenig braucht, um glücklich zu sein. Wie wichtig auch Familie und Freunde sind und dass nicht alles selbstverständlich ist, sondern sich das Leben von einem Moment auf den anderen grundlegend ändern kann. Ich wünsche allen in dieser Zeit Gelassenheit und Gesundheit und finde, man kann auch dankbar sein, für alles, was man hat. Das ist meist mehr, als man auf den ersten Blick meint.