Aktuell | 15. Mai 2024

Akronyme gegen das Chaos: Wie praxistauglich sind VUCA und BANI?

VUCA und BANI sind beides Schlagwörter, die unsere heutige komplexe Welt mittels vier respektive acht Adjektiven umschreiben. Worum geht es überhaupt bei diesen Akronymen und welchen Nutzen stellen sie in der Praxis dar? Den Versuch, den Stand der Theorie mit den Anforderungen der Praxis zu überprüfen, wagen Matthias M. Mattenberger und Pascal O. Stocker, Dozenten der HWZ, zusammen mit Dr. André Riedel, dem Leiter SGO CoP Business Transformation.

Headerbild Matthias Mattenberger&pascal Stocker Hwz

Es handelt sich hier um eine Zweitpublikation. Die Erstpublikation erschien im Magazin «zfo», dem Informationsmedium zu aktuellen Themen aus Organisationsentwicklung, Changemanagement, Projekt- und Prozessmanagement sowie den damit verbundenen Führungsaufgaben. Der Beitrag wurde im Mai 2024 leicht überarbeitet.

Globale Pandemie, Kriege, Klimakatastrophen, politische Unsicherheiten: Wir befinden uns im Zeitalter des Chaos. Strukturen zu erkennen ist schwer, zeitweise sogar unmöglich. Für Führungspersonen und Unternehmen eine stete und komplexe, gar chaotische Herausforderung. Da kommt ein beschreibender Rahmen gerade richtig: VUCA und BANI versuchen mit ihren vier Adjektiven die Welt und ihre Herausforderungen zu erläutern. Den Fragen, was die Akronyme bedeuten und wie hoch der Nutzen für die Praxis ist, will dieser Artikel nachgehen. Den Versuch, den Stand der Theorie mit den Anforderungen der Praxis zu überprüfen, wagen Matthias M. Mattenberger und Pascal O. Stocker, Dozenten der Hochschule für Wirtschaft in Zürich (HWZ), zusammen mit Dr. André Riedel, dem Leiter SGO CoP Business Transformation.

Früher war alles besser. Vielleicht war das der Denkanstoss, der in den 1980er-Jahren zum Akronym VUCA führte. Mithilfe dieses Buchstabengebildes erklärt man seither die veränderten Anforderungen an Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Im Gegensatz zu früher ist die Welt volatil, unsicher, komplex und ambivalent, daher VUCA (Englisch: volatility, uncertainty, complexity und ambiguity). 30 Jahre später hat vielleicht die Überlegung »Früher war alles gut, heute ist alles besser. Es wäre besser, wenn wieder alles gut wäre« zu einem neuen Akronym geführt: BANI. Es beschreibt seit 2020 die noch komplexere Gegenwart. Das Akronym versteht die Welt als brüchig, ängstlich, nicht linear und sogar unbegreiflich (Englisch: brittle, anxious, nonlinear, incomprehensible). Eine sich verändernde Welt bedingt sich verändernde Akronyme.

Spannend ist dabei, dass das Akronym BANI nun den – seit Jahren die volatile Welt beschreibenden – Begriff VUCA abzulösen scheint. Eine sich verändernde Welt bedingt auch sich verändernde Akronyme. Der Vater des neuen Wortes ist der US-amerikanische Zukunftsforscher und Autor Jamais Cascio. Im April 2020 hebt er BANI im Artikel »Facing the Age of Chaos« auf der frei zugänglichen Blog-Plattform »Medium« aus der Taufe (https://bit.ly/ BANI-Welt).

VUCA

Die Abkürzung VUCA beschreibt eine zunehmend volatilere, unsicherere, komplexere und mehrdeutigere Welt. Das Akronym kommt nicht aus der Unternehmensführung. Es diente am United States Army War College dazu, die Welt nach dem Kalten Krieg besser einzuordnen, und floss danach in einen breiteren Kontext ein. Die Abkürzung steht für Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity.

Volatility beschreibt die hohe und zunehmende Geschwindigkeit sowie die unstetige und unberechenbare Entwicklung, mit der wir täglich konfrontiert sind. Grenzen verschwimmen und langfristige Planung wird immer schwieriger. Unser Leben ist unbeständiger, unberechenbarer, empfindlicher, aber auch lebhafter geworden. Exemplarisch dafür sind die Coronakrise oder digitale Player wie Uber & Co., welche sich in kürzester Zeit zu dominierenden Unternehmen entwickelten.

Uncertainty beschreibt die vermehrt unklaren, unentschiedenen, unsicheren oder gar ungewissen Zustände, welche wir in unserer Arbeitswelt, aber auch im Privaten wahrnehmen. Unser Leben ist undurchschaubarer, unwägbarer, unvorhersehbar, aber auch abwechslungsreicher geworden. Exemplarisch dafür sind Bitcoins oder die US-Präsidentschaftswahlen.

Complexity beschreibt Gegebenheiten, welche von mehreren, gegenseitig abhängigen und sich beeinflussenden Faktoren geprägt sind. Unser Leben ist vielschichtiger, verflochtener, unübersichtlicher, komplexer, aber auch differenzierter und vielfältiger geworden. Exemplarisch dafür sind die globalen Auswirkungen der Blockierung des Suezkanals durch das quer festliegende Containerschiff »Ever Given«, unsere Abhängigkeit von Strom und Internet oder die Realität gewordene Multioptionsgesellschaft.

Ambiguity beschreibt die vielschichtigen, variablen und sich teils widersprechenden Situationen, in denen wir uns befinden. Unser Leben ist mehrdeutiger, unklarer, widersprüchlicher, aber auch voller Möglichkeiten geworden. Exemplarisch dafür ist unsere totale Vernetzung und der permanente Austausch über digitale Kanäle – und trotzdem waren wohl noch nie so viele Menschen so einsam wie heute.

Was bedeutet nun das Akronym BANI?

Es lohnt sich, zum Verständnis des Wortgebildes, einen Blick auf die einzelnen Adjektive zu werfen: Brittle, brüchig. Brechen tun Dinge, die nicht elastisch sind. Spröde und abgenutzte Gegenstände. Systeme, die nach aussen stark wirken, im Innern aber schwach und morsch sind. Brittle steht für eine vermeintliche Stärke. Eine, die es eigentlich nicht mehr gibt oder die schon lange der Vergangenheit angehört. Anxious, ängstlich. Angst entsteht aus dem Gefühl, mit keiner Entscheidung richtig zu liegen, oder mehr noch: mit jedem Beschluss ein Desaster auslösen zu können. Diese Angst kann Entscheider:innen in die Passivität oder die Verzweiflung treiben. Die schnelllebige und von Algorithmen getriebene Medienwelt unterstützt diese Negativspirale zusätzlich. Non-linear, nicht linear. Nichtlinearität bedeutet, dass Kausalitäten nicht mehr gegeben sind. Aktion und Reaktion stimmen nicht überein oder bedingen sich gar nicht. Kleine Aktionen können massive Reaktionen auslösen. Mit positiven oder negativen Ausprägungen, aber immer mit schlecht vorhersehbarem Ausgang. Incomprehensible, unfassbar. In einer unbegreiflichen, unfassbaren Welt sind Ereignisse oder Entscheidungen nicht nachvollziehbar. Entweder liegen die Ursachen dafür zu weit zurück oder sie sind zu komplex, um korrekt eingereiht zu werden. Selbst mehr Informationen garantieren kein besseres Verständnis. In der Informationsflut ist das Rauschen kaum mehr vom Signal zu unterscheiden. Festzuhalten ist, dass heutige Probleme weder einfach noch kompliziert oder komplex, sondern chaotisch zu verstehen sind.

  • Ein einfaches Problem bedingt ein klares, eindeutiges Handeln.

  • Ein kompliziertes Problem bedingt vor dem Handeln eine Analyse der Situation.

  • Ein komplexes Problem bedingt vor dem Handeln ein Sondieren, also ein Ausprobieren von möglichen Lösungsansätzen.

  • Das Chaos bedingt aber erst eine Stabilisierung der Situation, bevor das Problem begriffen und behandelt werden kann.

Hwz Ask the Expert Matthias Mattenberger Grafik Einfach Vs Chaos

Wie will BANI unterstützen?

Wie VUCA will auch BANI helfen, die Herausforderungen der Zeit besser zu verstehen. Die Schlüsse daraus muss man für die alltäglichen Herausforderungen und die veränderten Anforderungen der Wirtschaftswelt allerdings selbst definieren.

Glücklicherweise liefert der Schöpfer des Begriffs einige Ansätze mit, wie man auf diese chaotische Umgebung reagieren kann:

  • Bei Brüchigkeit rät er zu Belastbarkeit und Lockerheit.

  • Der Angst könne man mit Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen begegnen.

  • Nichtlineares verlangt nach Kontext und Flexibilität.

  • Unverständliches soll mit Transparenz und Intuition greifbar werden.

Hwz Ask the Expert Matthias Mattenberger Grafik Bani Verlangt Nach

Was taugen Akronyme wie BANI und VUCA in der Theorie?

Selbst der Begründer des Akronyms konstatiert, dass die oben genannten Ansätze eher Reaktionen als Lösungen seien. Dennoch können uns solche Wortschöpfungen daran erinnern, wo man ansetzen kann. Zudem können sie der gefühlten Unsicherheit einen Namen geben und damit Klarheit schaffen. Klarheit, die gerade in diesen Zeiten bitter nötig ist. Sicher ist, dass sich alles verändern wird. Systeme, ob Staaten- oder Wirtschaftssysteme oder gar unsere persönlichen Beziehungen zu Freunden und Familie. BANI wird uns für diese Veränderung nicht bereit machen, kann aber Hilfe leisten, den Wandel in Worte zu fassen – bis ein neues Akronym nötig sein wird oder wir eines zu Hilfe nehmen, das bereits über 2500 Jahre alt ist: »Nichts ist so beständig wie der Wandel« (es wird Heraklit von Ephesus zugeschrieben).

Was sagt die Praxis dazu?

Heute darf behauptet werden, dass das VUCA-Konzept in der Geschäftswelt längst angekommen ist. Bisher war es der wichtigste erläuternde Rahmen für die Herausforderungen in einer zunehmend chaotischen Welt mit steigendem Niveau an wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit. Seit der Entwicklung des Konzepts in den 1980er-Jahren ist aber schon einige Zeit vergangen. In der Zwischenzeit hat eine starke Entwicklung der Unternehmenskulturen stattgefunden und es haben sich die Fähigkeiten etabliert, sich dauerhaft an immer neue Herausforderungen anzupassen, um mit der Volatilität Schritt zu halten und einen Platz in komplexen Systemen zu finden. Das Black-Swan-Ereignis »COVID-19« im Jahr 2020 hat uns allen deutlich vor Augen geführt, dass nicht prognostizierbare Ereignisse mit sehr weitreichenden globalen Auswirkungen jederzeit eintreffen können und die Unsicherheit diesbezüglich die einzige Gewissheit ist, die wir haben. Als erklärendes Modell reicht das VUCA-Weltbild hier teilweise nicht mehr ganz aus, um die Notwendigkeit eines wirklich kritischen Hinterfragens des eigenen Geschäftsmodells, die aktuellen Herausforderungen für das Unternehmen und auch für die Gesellschaft als Ganzes bewusst zu machen. BANI gibt dafür zusätzliche Denkanstöße und Anregungen zum Handeln.

Unabhängig davon, ob VUCA oder BANI die zutreffendere Beschreibung der aktuellen Situation ist, wird mit einem kritischen Blick auf die unternehmerischen Realitäten eines deutlich: Herkömmliche, langwierige und starre Strategie- und Entscheidungsprozesse, die häufig von mehrjährigen Planungshorizonten ausgehen, sind oft und schon lange nicht mehr zielführend. Das Gleiche gilt für stark hierarchische Organisationsstrukturen, die in einem instabilen und brüchigen Umfeld ungeeignet sind, um flexibel agieren zu können. Ängstliches Verhalten und non-lineare Ursachen- und Wirkungszusammenhänge verunmöglichen Entscheidungsfindungen und Innovation. 

Die zunehmende Unsicherheit erfordert mit neu geschaffenen Herausforderungen insbesondere ein neues Verständnis von Führung:

  • Wie schafft man Hoffnung und Optimismus in einer allgemeinen Atmosphäre des Pessimismus?

  • Wie kann man proaktiv bleiben und gleichzeitig auf Ereignisse reagieren, die man nicht kontrollieren kann?

  • Wie kann man die besten Mitarbeitenden behalten, während sie sich fragen, wie sicher das Schiff ist?

  • Wie kann man flexibel genug sein, um auf sich ändernde Situationen zu reagieren und gleichzeitig Pläne zu machen und sie umzusetzen?

Die Suche nach Orientierung erfordert starke Leader:innen, die bezogen auf die Arbeit, berufliche Entscheidungen oder den Umgang mit Herausforderungen ein Gefühl der Sicherheit geben, Wege aufzeigen und Mitarbeitende begleiten. Sind Sie diesen Anforderungen gewachsen?

Folgende Handlungsempfehlungen lassen sich basierend auf unseren Erfahrungen aus der unternehmerischen Praxis ableiten, um die Herausforderungen der VUCA- und BANI-Welt anzugehen:

  • Seien Sie ehrlich zu Menschen und gleichzeitig optimistisch in Bezug auf die Möglichkeiten.

  • Binden Sie Menschen so weit wie möglich ein, um Entscheidungen zu treffen, die getroffen werden können.

  • Entwickeln Sie die Fähigkeit, entschlossen zu handeln und gleichzeitig flexibel genug zu sein, um den Kurs zu ändern, wenn neue Erkenntnisse vorliegen.

  • Machen Sie keine Versprechungen, die Sie nicht halten können.

  • Erkennen Sie an, dass Sie über eine Fülle von Fachwissen, Intelligenz, Fähigkeiten und Ressourcen in Ihrem Unternehmen verfügen, um die bevorstehenden Herausforderungen zu meistern, und gehen Sie wertschätzend damit um.

Weder VUCA noch BANI liefern fertige Anleitungen zum Handeln, was von solchen Denkkonzepten auch nicht erwartet werden kann. Eine bewusste Auseinandersetzung mit den Botschaften, die sie transportieren, und ausgelöste Selbstreflexion können aber einen entscheidenden Nutzen für jeden persönlich und für die Organisationen bringen, wenn der Weg gefunden wird, die daraus gezogenen Schlussfolgerungen konsequent umzusetzen.

Literatur Snowden, D.: Multi-ontology sense making – a new simplicity in decision making. In: Informatics in Primary Health Care, 13. Jg., 2005, H. 1, S. 45–54.

Die Autoren

Matthias M. Mattenberger, Dozent an der HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich und Leiter des Academy Seminars «Brandtelling» | mm.mattenberger@fh-hwz.ch

Pascal O. Stocker, Leiter Center for Entrepreneurial Management und Studiengangsleiter an der HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich | pascal.stocker@fh-hwz.ch

Dr. André Riedel, Leiter SGO CoP Business Transformation, Experte im strategischen Management und Leader mit langjähriger Erfahrung in der Gestaltung von Corporate Transformationen im Schweizer Finanzsektor | mail@andre-riedel.com

Die Schweizerische Gesellschaft für Organisation und Management SGO
zfo – Zeitschrift Führung + Organisation