Aktuell | 12. Juli 2023
Eine berufliche Neuorientierung mit 45plus wird in Zukunft eher die Regel als die Ausnahme sein. Doch welche Gründe sprechen dafür und was gilt es dabei zu beachten? Prof. Urs Dürsteler hat sich intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt und kurz vor seinem Tod das Buch «Berufliche Neuorientierung mit 45plus – Das Dreistufenmodell» geschrieben. Dieses ist nun erschienen.
Mit grossem Bedauern müssen wir mitteilen, dass Prof. Dr. Urs Dürsteler Ende Mai unerwartet verstorben ist. Sein Buch «Berufliche Neuorientierung mit 45plus – Das Dreistufenmodell» ist kurz nach seinem Tod am 9. Juni offiziell erschienen. Er war sehr glücklich und erleichtert, als er die ersten zwei Exemplare seines Werkes in den Händen halten konnte. Es war ihm ein grosses Anliegen, das Buch unter die Leute zu bringen. Aus diesem Grund haben wir in Absprache mit seiner Frau Nadia Dürsteler dieses Interview veröffentlicht, welches wir mit Urs Dürsteler im Mai geführt haben.
Urs, was hat dich dazu inspiriert, ein Buch über die berufliche Neuorientierung für Menschen ab 45 zu schreiben?
In Diskussionen in meinem Bekannten- und Freundeskreis sowie aufgrund meiner eigenen Biografie und beruflichen Erfahrungen wurde mir bewusst, mit welchen unterschiedlichsten beruflichen Herausforderungen die Generation 45plus konfrontiert ist. Dabei stehen verschiedene Gründe im Vordergrund. Im Alter zwischen 40 und 50 Jahren geraten viele Leute in eine Midlife-Krise und oftmals auch in eine Midwork-Krise, weil sie von ihrem Berufsalltag genug haben und eine neue Herausforderung suchen. Andere werden aus unterschiedlichsten Gründen durch ihre Arbeitgeber freigestellt oder haben innerlich oder sogar proaktiv selber gekündigt. Eine wichtige Gruppe bilden Mütter, die nach ihrer Familienpause eine neue berufliche Tätigkeit suchen. Schliesslich sind viele Frühpensionierte und Rentnerinnen und Rentner zunehmend interessiert, ihre dritte Lebensphase mit einer sinnstiftenden Beschäftigung zu ergänzen. Für alle angesprochenen Gruppen stellt sich dieselbe Grundsatzfrage: Wie finde ich eine befriedigende Tätigkeit, die auf meine persönlichen Werte, Interessen und Bedürfnisse abgestimmt ist und mich letztlich glücklich macht?
Du sprichst von einem Dreistufenmodell. Was ist damit gemeint?
Das Dreistufenmodell enthält die verschiedenen Phasen für eine berufliche Neuorientierung mit 45plus. Am Anfang steht die konstruktiv selbstkritische und prozessorientierte Reflexion der eigenen Persönlichkeit, die vorteilhaft mit Meinungen einer oder mehrerer Personen des Vertrauens reflektiert und allenfalls ergänzt werden sollten. Die erworbenen Kenntnisse dienen als Basis für die Entwicklung eines beruflichen Prototyps, um letztlich das zukünftige Lebens- und Berufsmodell zu gestalten. Nach diesem grundsätzlichen Findungsprozess werden die Weichen gestellt, ob die Zukunft als Arbeitnehmende, als Selbstständigerwerbende im Sinne eines Start-ups oder als hybrides Arbeitsmodell gestaltet werden soll.
Ich nehme an, dass es viele Unterschiede gibt, wenn es um berufliche Neuorientierung geht. Worin unterscheiden sich diese für Menschen über 45 von denen für jüngere Menschen?
Der Traum von oder die Suche nach einer interessanten und erfüllenden Beschäftigung für die Altersgruppe 45plus sind sehr vielfältig. Somit fallen auch mögliche Laufbahnmodelle und Empfehlungen sehr unterschiedlich und gleichzeitig auch komplex aus. Dabei spielen die sozioökonomische und -kulturelle Herkunft, der Bildungs- und Weiterbildungshintergrund, die gesundheitliche Situation der Arbeitsuchenden, die eigene Mobilität, familiäre Faktoren sowie bei nicht oder wenig digitalisierbaren Funktionen die regionale Wirtschaftsstruktur unter anderem eine bedeutende Rolle. Jeder Fall ist einzigartig in der Sache. Aufgrund der Definition des Alters werden hauptsächlich die Generation Baby Boomer (1946-1964) beziehungsweise die Generation X (1965-1975) angesprochen. Bei dieser Typologisierung sind durchaus einige Grundmuster zu erkennen. Die Generation Baby Boomer ist mit verschiedenen Herausforderungen bei einer beruflichen Neuorientierung konfrontiert. Sie haben die Arbeit in den Mittelpunkt ihres Lebens gestellt (Workaholics), sind aber oftmals offen, sich zu «entschleunigen», da ihre Pensionierung in greifbare Nähe gerückt oder bereits erfolgt ist. Bei der Generation X stellt sich neben einer ungewollten Arbeitslosigkeit auch das Thema der Midwork-Krise. Verallgemeinernd kann diese Kohorte als ergebnisorientiert, technisch versiert und mit dem Streben nach einer hohen Lebensqualität umschrieben werden. Darin enthalten sind eine hohe Freiheit in der Arbeitsgestaltung, Entwicklungsmöglichkeiten und eine Work-Life-Balance.
Mit welchen Herausforderungen sehen sich Menschen ab 45 Jahren bei einer beruflichen Neuorientierung typischerweise konfrontiert und wie können sie diese bewältigen?
Arbeitnehmende in der Schweiz mit 45plus sind vielfach mit Klischees konfrontiert, die sie bei der Entwicklung einer beruflichen Neuorientierung behindern. Einige Vorbehalte besitzen ein Quäntchen Wahrheit, viele sind aber fragwürdig, überzeichnet oder an den Haaren herbeigezogen. Oft werden ganz unterschiedliche Defizite gegenüber den Stellensuchenden erwähnt wie beispielsweise die fehlenden beruflichen Kompetenzen, ein umständlicher Arbeitsstil, «old school behavior», zu hohe Salärvorstellungen oder gesundheitliche Vorbehalte. Der Umgang mit dieser Stereotypisierung bedingt eine Ehrlichkeit gegenüber sich selber, die aufgrund einer selbstkritischen Selbstanalyse identifiziert und angegangen werden muss.
Welches sind die wichtigsten Schritte, die Menschen ab 45 Jahren unternehmen können, um ihre berufliche Neuorientierung erfolgreich zu gestalten?
Wichtig bei diesem dreistufigen Modell ist die Grundannahme, dass die Altersgruppe 45plus das Leben selbst in die Hand nimmt und selbstbewusst, neugierig und positiv in die Zukunft schaut, und bereit ist, die eigene Komfortzone zu verlassen. Selbstverständlich können sich zwischendurch auch Straucheln oder sogar Versagen einstellen. Erfolge und Enttäuschungen sind wichtige Bausteine für die schrittweise und prozessuale Gestaltung der Zukunft. In diesem Prozess müssen auch eigene Trugschlüsse hinterfragt und daraus Erkenntnisse zur persönlichen Weiterentwicklung abgeleitet werden, die letztlich zum Neudenken animieren sollten.
Sich für eine berufliche Neuorientierung zu entscheiden, ist nicht immer einfach – vor allem, wenn man finanzielle Verpflichtungen hat. Wie können Menschen mit Familie oder finanziellen Verpflichtungen eine berufliche Neuorientierung erfolgreich meistern?
Eine wichtige Handlung bei der Entwicklung einer beruflichen Neuorientierung ist, sich von eigenen Sachzwängen zu lösen und Ballast abzuwerfen, also sich letztlich zu befreien und offen für Neues zu sein. Wer nimmt sich jeweils nicht am Jahresende vor, sich psychisch zu entrümpeln, physisch neu zu starten und allgemein mit guten Vorsätzen das Neue Jahr zu beginnen? Erfahrungsgemäss sind Vorsätze gar nicht immer so einfach umzusetzen. Am Ende des Tages beziehungsweise des beruflichen Neuorientierungsprozesses muss letztlich eine Güterabwägung erfolgen, das heisst zwischen dem Ausharren in der bestehenden Position, oder eine inspirierende Neuanstellung suchen, oder ein Start-up gründen, oder eine hybrides Arbeitsportefeuille entwickeln. Der Einbezug von Personen des Vertrauens und der Familie in diesem Prozess ist unabdingbar.
Sich neu zu orientieren, erfordert Mut. Was empfiehlst du denjenigen, die noch mit dem Gedanken spielen?
Ob jemand bereit ist, sich beruflich neu zu orientieren, müssten die folgenden zehn Fragen mehrheitlich mit einem «Ja» beantwortet werden:
1. Bist du an einem Lebenspunkt angelangt, bei dem du dich problemlos neu orientieren kannst, das heisst ohne einschränkende Rahmenbedingungen wie zum Beispiel geografischer Lebensmittelpunkt, Fürsorgeverpflichtungen, Gesundheitsprobleme und andere?
2. Hast du irgendwelche Vorstellungen über deine Zukunft?
3. Gibt es etwas, worüber du immer und immer wieder nachdenkst?
4. Hast du eine Vorstellung, wie weit weg oder wie nahe dein Wunsch ist, einen radikalen Wechsel in deinem Berufsleben vorzunehmen?
5. Bist du finanziell bereit, einen solchen Wechsel zu tragen beziehungsweise zu riskieren?
6. Hast du jemanden, mit dem du über deine Ideen und Pläne im Vertrauen sprechen kannst?
7. Bist du offen, dein Wissen und deine Kompetenzen zu erweitern?
8. Weisst du schon, in welcher Umgebung und wie viel du in Zukunft allenfalls arbeiten möchtest?
9. Hast du dir Gedanken gemacht, ob du selbstständig erwerbend oder in einem Anstellungsverhältnis tätig sein möchtest?
10. Kannst du kurz und bündig erklären, wo du in deinem Prozess der beruflichen Neuausrichtung stehst?
Urs Dürsteler hat auf dem zweiten Bildungsweg Ökonomie studiert und an der Universität St. Gallen promoviert (Dr.oec.HSG). Auslandsaufenthalte über insgesamt fünfzehn Jahre in Nepal, den USA, Bhutan, Israel und Spanien haben ihm neben unterschiedlichsten beruflichen Erfahrungen auch menschlich, kulturell und sprachlich neue Welten erschlossen. Als langjähriger Prorektor der HWZ hat er zudem viele Studien- und Karriereberatungsgespräche geführt. Sein dreijähriger Aufenthalt als Visiting Senior Research Scholar an der University of California in San Diego (UCSD), wo er sich in einem dreisemestrigen Studium zum Certified California Career Advisor weitergebildet hat, ergänzt seinen vielfältigen Erfahrungshintergrund in der Laufbahnberatung.
Urs Dürsteler ist am 29. Mai unerwartet verstorben. Mit Urs Dürsteler verlieren wir einen inspirierenden und engagierten Kollegen und werden ihn und sein Engagement für die HWZ und die Bildung in bester Erinnerung behalten. Unser tiefstes Mitgefühl gilt seiner Familie, der wir in dieser schweren Zeit viel Kraft wünschen.
HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich Lagerstrasse 5, Postfach, 8021 Zürich kundencenter@fh-hwz.ch, +41 43 322 26 00
ImpressumDatenschutz