Aktuell | 10. Juli 2025
Jan Müller präsentiert seine Bachelorarbeit «Zwischen Ausgrenzung und Solidarität» anlässlich des 40-Jahr-Jubiläums der Aids-Hilfe Schweiz. Darin untersucht er den Aids-Diskurs in der reformierten Landeskirche Zürich – und spricht mit uns über Sichtbarkeit, Konflikt und den Weg zu mehr Gleichberechtigung.
Im Vorwort deiner Bachelorarbeit schreibst du, dass es Mut brauchte, dich dieser Geschichte zu widmen – als schwuler Mann, als Pfarrerssohn und als Mitarbeiter der Aids-Hilfe Schweiz. Was hat dir letztlich geholfen, diesen Mut aufzubringen und dich diesem Spannungsfeld zu stellen?
Es waren vor allem die vielen Gespräche mit Menschen, die diese Zeit erlebt haben: Aktivist:innen, kirchenpolitisch Engagierte, Freund:innen. Sie alle haben mich ermutigt, genauer hinzuschauen. Viele meinten: Diese Geschichte muss erzählt werden. Und wenn man nicht nur Archivmaterial liest, sondern die Geschichte sorgfältig analysiert und wirklich zuhört, dann erkennt man nicht nur Brüche – sondern auch Hoffnung. Viel Rückhalt habe ich auch von meinem Betreuungsdozenten Dr. Matthias Nast erhalten. Er hat mich bestärkt, diesen ungewöhnlichen methodischen Weg zu gehen – und mir den Raum gegeben, meine eigene Perspektive einzubringen.
Jan hat ein sehr anspruchsvolles und komplexes Thema wirklich differenziert analysiert. Seine Bachelorarbeit geht weit über das Niveau einer üblichen Bachelor Thesis hinaus. Ich bin wirklich beeindruckt und wünsche Jan alles Gute für die Zukunft.
Du analysierst die reformierte Kirche Zürich als Ort von gleichzeitiger Ausgrenzung und Solidarität. Woher kommt deiner Einschätzung nach diese Diskrepanz? Und wie erklärst du dir, dass gerade die Kirche beides verkörpern konnte: Trost und Verurteilung?
Solche Widersprüche entstehen, weil Institutionen wie die Kirche keine homogenen Gemeinschaften sind. Sie vereinen Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen. Wo diese aufeinandertreffen, entstehen Spannungen – aber eben auch Räume für Auseinandersetzung und Wandel. Entscheidend ist, ob die Kirche bereit ist, diese Spannungen auszuhalten und Veränderungen zuzulassen. Und das war die reformierte Kirche im Kanton Zürich – wenn vielleicht auch nicht ganz freiwillig.
Jan Müller während der Präsentation seiner Bachelor Thesis in der Wasserkirche Zürich.
In der Diskursanalyse spielt Sprache eine zentrale Rolle. Welche Wendungen oder Begriffe sind dir besonders aufgefallen?
Besonders spannend fand ich die Entwicklung der Begriffe. Anfangs sprach man von «Andersliebenden», später von «Problemen gleichgeschlechtlicher Partnerschaften», dann von der «Situation homosexueller Menschen» oder der «Frage der Homosexualität». Letzterer erinnert stark an Ausdrücke wie «soziale Frage» oder «Frauenfrage» – Themen, die gesellschaftlich ausgehandelt werden mussten. Sprache ist nie neutral. Sie zeigt, was sagbar ist – und was nicht.
Was sind – bei aller Tragik – für dich die bedeutendsten positiven Entwicklungen, die durch die Aids-Krise angestossen wurden, sei es gesellschaftlich, politisch oder innerhalb der Kirche?
Für die reformierte Kirche Zürich war die Aids-Krise ein Wendepunkt. Sie zwang die Institution, sich mit Homosexualität auseinanderzusetzen. Ich bin überzeugt: Ohne diesen Druck wäre das Thema nicht zu diesem Zeitpunkt verhandelt worden. Auf gesellschaftlicher Ebene war die Solidarität beeindruckend: Menschen haben sich gegenseitig gestützt, begleitet und gemeinsam gekämpft. Diese Kraft und Verbundenheit zu sehen, auch zwischen völlig verschiedenen Gruppen, hat mich sehr berührt.
Jans Arbeit zeigt die ambivalente Rolle der reformierten Kirche: einerseits die frühe Solidarität mit Aidskranken, andererseits die lautstarke, aber kleine Gegenbewegung seit den 1990er Jahren. Er macht sichtbar, wie die Aids-Krise einen Wandel angestossen hat, der zur bislang grössten Akzeptanz homosexueller Menschen in der Kirche führte. Mich persönlich macht das stolz – zu sehen, welchen Weg unsere Kirche gegangen ist. Gleichzeitig stimmt es mich nachdenklich, dass es diese ablehnenden Stimmen immer noch gibt und sie weltweit wieder Aufwind erhalten.
Deine zentrale These lautet: Sichtbarkeit kann Wandel ermöglichen. Wie wichtig war es, dass Homosexualität durch Aids plötzlich ein öffentlich verhandelbares Thema wurde – und welche Rolle spielten dabei kirchliche Konflikte?
Sichtbarkeit schafft Realität. Was nicht sichtbar oder benennbar ist, wird oft auch nicht wahrgenommen. Aids hat viele gezwungen hinzuschauen – auch in der Kirche. Während in der Gesellschaft Homosexualität schon vorher sichtbarer wurde, war sie kirchlich stark tabuisiert. Erst durch Aids rückte sie in den Fokus – und mit der Sichtbarkeit kam die Debatte. Die Konflikte, die daraus entstanden, waren unangenehm, aber sie haben letztendlich zu Veränderung geführt.
In deiner Arbeit zeigst du Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlicher Ausgrenzung, Krankheit, Institutionen und Emanzipation. Zu welcher Erkenntnis bist du dabei gekommen: Braucht es Konflikt, damit Veränderung gelingt?
Ich hoffe fest, dass Konflikte nicht immer erforderlich sind, um etwas zu bewegen. Aber Konflikte machen Widersprüche sichtbar. Und manchmal öffnen sie Räume, in denen plötzlich ausgesprochen wird, was vorher undenkbar war. In meiner Analyse wird das deutlich: Einige Veränderungen in der reformierten Kirche Zürich wären ohne offene Auseinandersetzungen nicht passiert. Konflikte sind also nicht zwingend notwendig – aber sie können Veränderung auslösen.
Jan Müller und Grossmünsterpfarrer Christian Walti vertieft in Diskussionen.
Die reformierte Kirche Zürich hat sich 2019 klar für die «Ehe für alle» ausgesprochen – eine Entwicklung, die du als «nächstes Kapitel» bezeichnest. Was bedeutet dir diese Haltung persönlich? Und wo siehst du heute noch Herausforderungen?
Die klare Unterstützung der «Ehe für alle» war für mich persönlich ein starkes Zeichen. Vor allem, wenn man weiss, wie schwierig der Weg dahin war. Herausforderungen bestehen heute jedoch nach wie vor: Der gesellschaftliche Gegenwind nimmt wieder zu, auch in kirchlichen Kreisen. Ich wünsche mir, dass die Kirche an ihrer Haltung festhält und weiterhin Verantwortung übernimmt – für Gleichberechtigung und gegen Ausgrenzung.
Du bist auch politisch aktiv. Was ist dein Ziel, wenn du dich für queere Rechte einsetzt – und ist mit der «Ehe für alle» deine Arbeit getan?
Nein, mit der «Ehe für alle» ist die Arbeit nicht getan. Sie ist ein Zeichen für rechtliche Gleichstellung, aber die Lebensrealitäten queerer Menschen sind vielfältiger. Es geht um Schutz vor Hassverbrechen oder um Gesetze, die trans Menschen selbstbestimmte Entscheidungen über ihr Leben zugestehen. Doch gerade in den letzten Jahren erleben wir wieder Rückschritte. Rechte Gruppen verbreiten Unwahrheiten und Hass, auch in der Schweiz. Das betrifft queere Jugendliche, trans Menschen, die ganze Community. Deshalb braucht es weiterhin das Engagement vieler Menschen.
Ein evangelischer Theologe sagte einmal: Die Kirche ist der Ort, wo die Träume wohnen. Wir haben heute von Ausgrenzung und Solidarität gehört – beides gehört zur Geschichte. Entscheidend ist aber, welche Rolle Kirche heute einnehmen kann: als Gegenpol zu politischen Strömungen. Diese Haltung braucht es – für unsere Arbeit und für die Gesellschaft.
Business Communications klingt auf den ersten Blick weit entfernt von Religion oder Aids-Krise. Was konntest du aus deinem Studium an der HWZ für die Analyse eines sensiblen gesellschaftlichen Themas mitnehmen?
Das Studium an der HWZ hat mir gezeigt, dass Kommunikation weit über Werbung und Medienarbeit hinausgeht. Auch Geschichte, Politik oder Soziologie gehören dazu. Diese thematische Breite ist eine grosse Stärke dieses Studiengangs – und sie hat mir das nötige Rüstzeug für meine Bachelor Thesis an die Hand gegeben. Ich glaube, alle Studierenden haben deshalb die Möglichkeit, ein Thema zu wählen, das sie wirklich interessiert.
Du präsentierst deine Bachelorarbeit im Rahmen des 40-Jahr-Jubiläums der Aids-Hilfe Schweiz und diskutierst mit dem Grossmünsterpfarrer. Welche Gedanken oder Emotionen verbindest du mit diesem Moment – und welche Botschaft möchtest du dem Publikum mitgeben?
Mich begleitet der Satz: «Begrabe deine Freunde am Morgen, demonstriere am Nachmittag und tanze die ganze Nacht.» Er stammt aus den Anfängen der Aids-Krise und sagt viel aus. Über Verlust, über Widerstand – aber auch über Lebensfreude. Ich hoffe, dass wir im Rahmen des 40-jährigen Jubiläums all das verbinden können: erinnern, kämpfen und feiern. Denn die Geschichte der Aids-Bewegung ist nicht nur eine Geschichte von Schmerz, sondern auch von Solidarität und Hoffnung.
Andreas Lehner, Christian Walti, Jan Müller, Matthias Nast, v.l.n.r.
Wir waren vor Ort, als Jan Müller seine Bachelorarbeit in der Wasserkirche präsentierte – trotz drückender Sommerhitze fanden sich interessierte Gäste ein, was Jan mit sichtbarer Dankbarkeit erwähnte. Mit spürbarer Leidenschaft teilte er seine Erkenntnisse, und auch das Gespräch mit dem Grossmünsterpfarrer bot spannende Einblicke in Vergangenheit und Gegenwart einer bewegten Geschichte.
HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich Lagerstrasse 5, Postfach, 8021 Zürich +41 43 322 26 00
ImpressumDatenschutzRechtliches