Aktuell | 10. Juni 2025
Von der Reitschule bis zur Street Parade – soziale Bewegungen prägen unsere Gesellschaft seit Jahrzehnten. Dr. Matthias Nast, Co-Studiengangsleiter des Bachelor Business Communications an der HWZ, Dozent und Historiker, setzte sich bereits als Jugendlicher in Bern für kulturellen Freiraum ein. Im Interview spricht er über den Wandel sozialer Bewegungen, die Rolle digitaler Medien, die Bedeutung gesellschaftlicher Teilhabe und erklärt, warum ein soziologischer Blick auch in wirtschaftlich geprägten Ausbildungen unverzichtbar ist.
Matthias, am 1. Mai war die traditionelle 1.-Mai-Demonstration. Diese Woche findet am Samstag der feministische Streik statt, eine der grössten sozialen Bewegungen in der Schweiz. Wann warst du zuletzt Teil einer sozialen Bewegung?
In meiner Jugend war ich in meiner Heimatstadt Bern Teil einer Bewegung, die sich für mehr kulturellen Freiraum einsetzte. Konkret ging es um die alte Reitschule, die als autonomes Jugendzentrum genutzt werden sollte. Ich nahm an einem kurzen Warnstreik und an einigen (unbewilligten) Demonstrationen teil. Mit Erfolg: Die Reitschule existiert bis heute! Heute engagiere ich mich ehrenamtlich für den Umweltschutz, etwa im Vorstand der Gewässerschutzorganisation Aqua Viva.
Ein schönes Beispiel dafür, dass Bewegungen tatsächlich etwas bewirken können. Wie haben sich soziale Bewegungen aus deiner Sicht im Laufe der Geschichte verändert? Gibt es Formen oder Merkmale, die früher typisch waren und heute kaum noch eine Rolle spielen – oder auch umgekehrt?
Frühere soziale Bewegungen – etwa die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert – waren straff organisiert, hierarchisch aufgebaut und langfristig ausgerichtet. Sie strebten strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft an. Daraus entstanden Institutionen, die bis heute zentrale Akteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind – etwa Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände und Parteien. Viele dieser Organisationen vertreten heute als Verbände eher materielle Interessen und sind fester Bestandteil des politischen Systems.
Im Gegensatz dazu sind heutige soziale Bewegungen oft dezentral, weniger hierarchisch und sehr dynamisch. Sie entstehen häufig spontan, ausgelöst durch konkrete Ereignisse, wie zum Beispiel die «Black Lives Matter»-Bewegung nach der Ermordung von George Floyd. Ihr Ziel ist oft ein kultureller oder gesellschaftlicher Wandel.
Allerdings ist die Trennlinie zwischen früheren und heutigen sozialen Bewegungen unscharf. Sie dient vor allem als historische oder analytische Kategorie. Auch soziale Bewegungen können langfristig bestehen. Die feministische Bewegung illustriert das gut: Bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert kämpften Frauen für rechtliche Gleichstellung, insbesondere das Wahlrecht, und waren in Verbänden organisiert.
Nach dem zweiten Weltkrieg folgte eine zweite Welle, die gesellschaftliche Gleichstellung in den Fokus rückte – etwa durch Forderungen nach sexueller Selbstbestimmung, dem Recht auf Abtreibung oder besserer Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In einer dritten (1990er und 2000er) und vierten Welle (seit circa 2010) setzte sich die Bewegung mit Themen wie Gendergerechtigkeit, mediale Frauenbilder oder sexistische Strukturen in Kultur und Arbeitswelt auseinander. Die Bewegung wurde dezentraler, gleichzeitig globaler und nutzte künstlerische Ausdrucksformen und digitale Kampagnen wie #MeeToo.
Soziale Bewegungen sind also wandlungsfähig. Sie bleiben wirksam, wenn sie sich an gesellschaftliche, technologische und kulturelle Veränderungen anpassen. Die Frauenbewegung zeigt das exemplarisch.
Deine Betonung der Wandlungsfähigkeit sozialer Bewegungen ist besonders spannend im Kontext einer zunehmend digital geprägten Welt. Welche Rolle spielen soziale Medien heute bei sozialen Bewegungen?
Während frühere soziale Bewegung über Flugblätter und Zeitungen kommunizierten und sich über Versammlungen organsierten, sind soziale Medien heute das zentrale Instrument. Sie sind das entscheidende Werkzeug für die Mobilisierung, die Sichtbarkeit und die Vernetzung. Sie ermöglichen die direkte Ansprache der Öffentlichkeit – ohne klassische Medien als Gatekeeper.
Der Schulstreik der Klimaaktivistin Greta Thunberg 2018 ist ein gutes Beispiel. Innerhalb weniger Monate wurde daraus die globale und massgeblich durch soziale Medien getragene «Fridays for Future»-Bewegung. Der Bewegung ist es damit gelungen, das Thema Klimagerechtigkeit weltweit sichtbar zu machen.
Auch die #MeToo-Bewegung, die 2017 durch Berichte über sexuelle Übergriffe im Film- und Kulturbereich ausgelöst wurde, verbreitete sich rasend schnell online. Millionen Frauen weltweit berichteten über Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch. Daraus entstand eine kraftvolle Protestwelle mit spürbaren Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Allerdings birgt die digitale Mobilisation auch Risiken. Sie erzeugt zwar Sichtbarkeit und Emotionalität, kann aber flüchtig bleiben und ist schwer steuerbar. Die schnelle, oft oberflächliche Kommunikation sozialer Medien steht langfristigen Zielen manchmal im Weg.
In Zeiten von starken Algorithmen und personalisierten Feeds ist es also schwierig auch andere Perspektiven wahrzunehmen...
Soziale Medien sind für soziale Bewegungen unverzichtbar geworden. Die Filterblasen-Logik sozialer Medien ist aber real. Nebst den bekannten «Bubbles» oder Echokammern, in denen Inhalte erscheinen, die nur die eigene Meinung bestätigen, sehe ich weitere Probleme.
Viele zeigen symbolisches Engagement – etwa durch Liken und Teilen eines Beitrags – ohne sich vertieft mit dem Thema auseinanderzusetzen. Wer den Kontext nicht kennt, läuft Gefahr auf Desinformation oder manipulierte Inhalte hereinzufallen. In autoritären Staaten besteht zudem das reale Risiko, dass Aktivistinnen und Aktivisten digital verfolgt und bestraft werden.
Wie gelingt es, nicht nur in der eigenen Bubble zu bleiben?
Das ist gar nicht so schwer. Es gibt Wege, sich bewusst aus dieser Bubble zu bewegen und den eigenen Horizont zu erweitern: Führe Gespräche mit Menschen, die andere Ansichten vertreten als du: höre zu, was sie zu sagen haben. Nutze verschiedene Plattformen und trickse die Algorithmen aus, indem du Beiträge zu vielfältigen Themen likest. Und vor allem: Bildung hilft. Wer sich informiert und kritisch denkt, kann sich eine fundierte eigene Meinung bilden – unabhängig von Filterblasen.
Wenn Engagement so viele Formen annehmen kann, stellt sich auch die Frage, wie weit man soziale Bewegungen eigentlich fassen kann. Wie weit reicht für dich das Spektrum sozialer Bewegungen? Denkst du, es gibt auch solche, die uns gar nicht als Bewegung bewusst sind. Beispielsweise die Street Parade?
Was ist eine soziale Bewegung? Wenn wir sie als kollektiven Zusammenschluss von Menschen verstehen, die sich ausserhalb etablierter Institutionen für gesellschaftlichen Wandel oder für bestimmte Werte einsetzt, gehört die Street Parade tatsächlich dazu – an der ich einige Male selbst mitgetanzt habe – und nein, nie auf einem Wagen ;-)
Was ist der Hintergrund dieses Events? Er ist mehr als nur eine grosse Party. Diese Bewegung entstand ursprünglich als Teil der Love Parade-Bewegung in Berlin und forderte Frieden, Toleranz, Liebe und Freiheit – vermittelt durch Musik und Tanz. Auch wenn die Street Parade heute stark kommerzialisiert ist, bleibt der Ursprung politisch: Musik und Tanz als Ausdruck alternativer Lebensformen, kultureller Vielfalt und gesellschaftlicher Offenheit. In diesem Sinne: Ja, auch die Street Parade kann als soziale Bewegung verstanden werden.
Dein Beispiel zeigt schön, dass soziale Bewegungen oft näher an unserem Alltag sind, als wir auf den ersten Blick denken. Auch an der HWZ werden gesellschaftliche Themen wie eben soziale Bewegungen im Unterricht behandelt. Warum ist es aus deiner Sicht wichtig, dass wir uns auch in einer wirtschaftlich geprägten Ausbildung mit sozialen Bewegungen beschäftigen?
Das ist sehr wichtig! Eine zukunftsgerichtete wirtschaftliche Ausbildung sollte über ökonomische Kompetenzen hinausgehen und gesellschaftliches Denken fördern. Unternehmen agieren nicht im luftleeren Raum. Sie sind eingebettet in gesellschaftliche Entwicklungen und stehen im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichem Erfolg, sozialen Erwartungen und unterliegen planetaren Grenzen. Diese Rahmenbedingungen beeinflussen Konsumverhalten, Reputation, Markenführung und unternehmerische Strategien. Wer Führungsverantwortung übernimmt, muss verstehen, welche gesellschaftlichen Erwartungen an Organisationen gestellt werden.
Soziale Bewegungen fungieren hier als eine Art Frühwarnsystem: Sie machen auf Missstände, Spannungen und ungelöste Fragen aufmerksam – oft bevor sie im Mainstream ankommen.
Dazu ein aktuelles Beispiel: Die Debatten rund um künstliche Intelligenz zeigen, wie soziale Fragen zurück auf die Agenda kommen – etwa Transparenz, Gerechtigkeit und Verantwortung. Und wie schon während der ersten Industriellen Revolution, als disruptive technische Entwicklungen das Althergebrachte zerstörten, wird es wieder Gewinner und Verlierer geben. Die Frage ist, wie unsere Gesellschaft, die Politik und die Wirtschaft damit umgehen werden.
Für Unternehmen bedeutet das: Wer gesellschaftliche Entwicklungen versteht und gezielt in seine Strategie integriert – etwa durch kluges Stakeholder-Management – handelt nicht nur verantwortungsvoll, sondern auch vorausschauend. Dazu gehört auch, auf soziale Bewegungen zu hören, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Deshalb gehört die Auseinandersetzung mit sozialen Bewegungen durchaus in eine moderne wirtschaftliche Ausbildung.
Vielen Dank, Matthias, für deine Zeit und deine spannenden Gedanken.
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