Forschung | 24. Juni 2024
Silvan Oberholzer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Strategisches Management der HWZ, untersucht in seiner Forschung, wie die Natur im Stakeholder Engagement eingebunden werden kann, um dadurch nebst ökonomischem einen ökologischen und sozialen Mehrwert zu schaffen. Anhand von Einsichten in indigene Unternehmen in der Sierra Nevada de Santa Marta, Kolumbien, zeigt er, inwiefern die Berücksichtigung der Natur als Stakeholder eine zentrale Rolle für eine ganzheitlich nachhaltige Wertschöpfung spielt. Zudem spricht er mit uns über seine wichtigsten Erkenntnisse der GRONEN Konferenz in Paris, an der er mit seinem Forschungsprojekt teilnahm.
Foto: Lora Barra Photography
Silvan, du arbeitest zurzeit an deiner Dissertation zum Thema des direkten Einbezugs der Natur in Stakeholder Engagement im Unternehmenskontext. Hierzu hast du unter anderem mit Vertreter:innen indigener Unternehmen in Kolumbien Gespräche geführt. Kannst du uns einen tieferen Einblick in dieses Forschungsprojekt geben?
In meiner Dissertation in Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen untersuche ich, wie Unternehmen die Natur in Stakeholder-Beziehungen berücksichtigen. Dies kann entweder auf indirekte Weise, durch die Berücksichtigung der Natur als Unternehmenskontext, oder direkt geschehen. Berücksichtigen Unternehmen die Natur auf direkte Weise, dann geschieht dies durch organisationsinterne Vertreter:innen, die sowohl die Wertschöpfung des eigenen Unternehmens als auch die Bedürfnisse und Interessen der Natur berücksichtigen. Wie dies genau vonstattengeht, ist momentan noch wenig empirisch erforscht, aber von grosser Relevanz für nachhaltiges Wirtschaften.
Seit letztem Sommer untersuche ich, wie indigene Unternehmen in der Sierra Nevada de Santa Marta, einer der Orte mit der höchsten Biodiversität der Welt im Nordosten Kolumbiens, durch die Inklusion von Natur als Ganzes und Teilen davon als Stakeholder regenerativen Wert schaffen. Diese Art von Wertschöpfung zeichnet sich dadurch aus, dass Unternehmen möglichst im Einklang mit der Natur wirtschaften, wobei die entstehenden positiven ökologischen und sozialen mögliche negative Auswirkungen übersteigen.
Du hast im Rahmen deines Forschungsprojekts verschiedene Interviews mit Unternehmen aus Kolumbien durchgeführt, die von indigenen Personen geführt und gegründet sind. Was hat dich dazu motiviert, diese Unternehmen im Nordosten Kolumbiens zu untersuchen?
In der Sierra Nevada de Santa Marta leben vier indigene Völker: die Kogi, Arhuaco, Wiwa und Kankuamo. Diese vier Völker stammen vom hoch entwickelten Tairona Volk ab, welches Jahrtausende und mit einer Bevölkerung von bis zu einer Million Personen bis zur spanischen Kolonisierung das Gebiet der Sierra Nevada de Santa Marta bewohnte. Die Weltanschauung dieser Völker basiert auf einem intrinsisch motivierten Respekt gegenüber der Natur und einer tiefen Verbundenheit mit der Natur. Diese fliessen auch in ihr wirtschaftliches Handeln ein. In meiner Forschung habe ich diese vier indigenen Völker berücksichtigt. Sie wirtschaften schon seit Jahrtausenden im Einklang mit der Natur und sind demzufolge regenerativ. Neu sehen sie sich aufgrund sozio-ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklungen zunehmend gezwungen, im Sinne westlicher Organisationen monetären ökonomischen Wert zu generieren. Dadurch eignen sich diese Unternehmen, Stakeholder Engagement aus einer nicht-westlichen Perspektive zu beleuchten, welche die Natur ins Zentrum stellt.
Zudem habe ich eine familiäre Verbindung zu Kolumbien, ohne die dieses Projekt nicht möglich gewesen wäre. Auch durch frühere Forschungsarbeit in Kolumbien bin ich mit dem grösseren sozio-ökonomischen Kontext vertraut. Die Sierra Nevada de Santa Marta besuchte ich ebenfalls schon vor dem Projekt mehrmals. Neu war für mich jedoch der Einbezug indigener Unternehmensvertreter:innen, wobei ich als nicht-indigene Person zusätzliche ethische Anforderungen und kontext-sensitive Vorgehensweisen zu berücksichtigen hatte.
Wie definierst du in deinem Forschungsprojekt den Begriff «Natur als Stakeholder»?
Wie ich in meiner Forschung feststellte, verstehen die untersuchten indigenen Unternehmen sowohl die Natur als Ganzes als auch einzelne Teile davon als Stakeholder. Der Einbezug von Natur als ganzheitlichen Stakeholder hilft den Unternehmen, die Auswirkungen ihres Handelns auf die Umwelt auf einer systemischen Ebene zu berücksichtigen. Der Einbezug von nicht menschlichen Teilen der Natur wie Ökosystemen (bspw. Wälder, Flüsse oder Weiden) oder Spezies (bspw. Tiere oder Pflanzen) als Stakeholder erlaubt, die spezifischen Rollen und Bedürfnisse dieser Stakeholder in der Wertschöpfung zu berücksichtigen. Dadurch können auch verschiedene Interaktionsformen ausfindig gemacht und gepflegt werden, die zu einer regenerativen Wertschöpfung beitragen. Menschliche, wie auch natürliche Stakeholder können die Unternehmensaktivität direkt oder indirekt beeinflussen oder von dieser beeinflusst werden. Dadurch haben sie auch strategische Relevanz für Unternehmen.
Inwiefern geht dieses Stakeholder-Verständnis über das Konzept der Natur als eine «Partnerin» hinaus?
In meiner Forschung habe ich mich intensiv mit der von den Kogi, Arhuaco, Wiwa und Kankuamo geteilten Weltanschauung auseinandergesetzt.
Dies bedingt wiederum, dass sich unternehmerisches Handeln an Naturzyklen und Logiken der Natur orientiert. Diese Art von Stakeholder-Verständnis der Natur fördert eine langfristige Orientierung und basiert auf der Wahrnehmung der Natur und ihrer Teile als lebendige Grundlage allen Lebens.
Kannst du einige Beispiele nennen, wie die von dir untersuchten indigenen Unternehmen die Natur anhand der Rolle eines «Guides» in ihre Geschäftsprozesse einbeziehen?
Der Einbezug der Natur als «Guide» durch die indigenen Unternehmen in der Sierra Nevada de Santa Marta ist sowohl strategisch als auch operativ verankert.
Auf strategischer Ebene verankern diese Unternehmen explizit oder implizit das Wirtschaften in Harmonie mit der Natur, beispielsweise in ihrer Mission.
Auf operativer Ebene werden Entscheide, die einen Einfluss auf die Natur haben, so gefällt, dass die Intaktheit der Natur nicht beeinträchtigt wird. Hierzu verhelfen das Denken und Agieren in Stakeholder-Beziehungen mit natürlichen Stakeholdern. Diese Beziehungen sind gekennzeichnet von Lernen durch direkte Interaktionen und einer aktiven nonverbalen Kommunikation mit natürlichen Stakeholdern, wie durch Beobachtung in der Natur.
Um indigenen Unternehmenskontexten gerecht zu werden, muss auch die Rolle der Spiritualität berücksichtigt werden. In der Sierra Nevada de Santa Marta nehmen die vier indigenen Völker jeden Teil der Natur als materielles und spirituelles Lebewesen wahr. Jedes Lebewesen wird als Bestandteil eines grösseren Ganzen und ökologischen als auch spirituellen Gleichgewichts verstanden. Durch Rituale und spirituelle Austausche mit naturverbundenen Personen mit einem vertieften Wissensschatz zur Natur schaffen die untersuchten indigenen Unternehmen Reflexionsräume im Arbeitsalltag. Diese Räume helfen, sich den Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Natur bewusst zu werden und tragen so zur naturverträglichen Anpassung unternehmerischen Handelns bei.
Weshalb ist es wichtig, sich die Praktiken indigener Unternehmen in der Sierra Nevada de Santa Marta zu Herzen zu nehmen?
Für einen nachhaltigeren Umgang mit der Natur durch Unternehmen gibt es viel zu lernen von den Jahrtausenden alten wirtschaftlichen Praktiken der indigenen Völker der Sierra Nevada de Santa Marta.
Wichtig ist dabei jedoch, die jeweiligen nicht-westlichen Stimmen korrekt zu repräsentieren. Dabei spielen Offenheit und Respekt für neue Weltanschauungen und Praktiken eine zentrale Rolle. Mir ist es beispielsweise auch ein Anliegen, dass meine Erkenntnisse den indigenen Unternehmen, welche an meinem Forschungsprojekt teilnahmen, nützlich sind.
Indigene Unternehmen in der Sierra Nevada de Santa Marta zeigen auf, wie man in Unternehmenstätigkeiten durch das Verständnis der Natur und Teilen davon als integrale Stakeholder eine nachhaltige Wertschöpfung erreichen kann. Diese Wertschöpfung dient der Natur und dem Menschen, welcher integraler Bestandteil der Natur ist. Die Denkweise in natürlichen Stakeholder-Beziehungen anstatt Entitäten hilft den untersuchten indigenen Unternehmen, den Einfluss von Unternehmensaktivitäten auf die Natur und umgekehrt besser zu verstehen. Die Unternehmen zeigen, dass die Teilhabe an einem Stakeholder-Netzwerk bestehend aus (nicht-)menschlichen Teilen der Natur mit der Verantwortung einhergeht, sich um die Gesundheit der darin enthaltenen Beziehungen zu kümmern.
Weshalb ist es für Unternehmen von Bedeutung, die Natur in Stakeholder Engagement einzubeziehen?
Erstens werden dadurch natürliche Stakeholder innerhalb einer Organisation sichtbar, indem ihre «Gesichter» und «Stimmen» in die Entscheidungsfindung und das Management einbezogen werden. Dadurch wird auch das Management der Rollen, Bedürfnisse und Präferenzen dieser Stakeholder möglich und es können Synergien geschaffen werden.
Zweitens wird durch den Einbezug natürlicher Stakeholder in der Unternehmenstätigkeit ein umfassenderes Verständnis der natürlichen Umwelt einer Organisation geschaffen. Veränderungen in der natürlichen Umwelt werden vorhersehbarer und naturbezogene Fragen können früher und effektiver angegangen werden.
Drittens bietet diese Art von Stakeholder Engagement Einblicke, wie eine Organisation natürliche Stakeholder beeinflusst, welche zentral für deren Wertschöpfung sind, und wie diese die Organisation und weitere ihrer Stakeholder beeinflussen. Der Erwerb dieses Wissens bildet nebst der Grundlage für regenerative Wertschöpfung auch Potenzial für Wettbewerbsvorteile.
Silvan Oberholzer (links) an der GRONEN Konferenz 2024 in Paris (Foto: Lora Barra Photography)
Du hast Ende Mai an der GRONEN 2024 Konferenz in Paris zum Thema «Mainstreaming Sustainability» mit deinem Forschungsprojekt teilgenommen. Was waren die wichtigsten Themen und Diskussionen auf dieser Konferenz?
Die Konferenz stand im Zeichen der Frage, inwiefern das Mainstreaming von Nachhaltigkeit bereits im Unternehmenskontext angekommen ist und was dessen Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft und die Umwelt sind. Dabei wurden Fragen behandelt wie, was Mainstreaming von Nachhaltigkeit überhaupt bedeutet oder von wem und für wen die Nachhaltigkeit «gemainstreamed» wird. Die Konferenz zeigte vor allem auf, dass viele unternehmerische Nachhaltigkeitsbestrebungen in Form von Zielsetzungen bestehen, insbesondere bezüglich Klimawandel, konkrete Strategien und Implementationen von Nachhaltigkeitsmassnahmen jedoch noch bei Weitem übertreffen.
Gleichzeitig besteht aktuell die Gefahr, dass Nachhaltigkeit mit der Bewältigung des Klimawandels gleichgesetzt wird, obschon nebst dessen Relevanz weitere Themen wie Biodiversitätsverlust, Ungleichheit und menschliches Wohlbefinden angegangen werden müssen. Die Konferenz hat aber aufgezeigt, dass diesen Themen und dadurch regenerativem Wirtschaften in der Forschung im Corporate Sustainability Bereich immer mehr Bedeutung zukommt.
Welche neuen Erkenntnisse und Impulse hast du von der Konferenz mitgenommen, die für dich besonders relevant sind?
Nebst konstruktivem Feedback für mein Forschungsprojekt und wertvollem Austauschen mit etablierten Forschenden und Doktoranden konnte ich während sogenannter «Professional Development Workshops» auch neue Inspiration für meine Lehrtätigkeit gewinnen. An der Konferenz wurde mir nochmals bewusst, wie wichtig ein besseres Management-Verständnis von regenerativem Wirtschaften ist, welches durch den Fokus auf die Schaffung positiver über das Vermeiden negativer ökologischer und sozialer Auswirkungen durch Wirtschaften hinausgeht. Zudem wurde an einer Panel-Diskussion mit Industrie-Vertretenden betont, wie wichtig die Kollaboration und Kooperation zwischen Stakeholder für die Erreichung von Nachhaltigkeit sind.
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