Aktuell | 10. Oktober 2023

Ein Leitfaden für das Design humaner Unternehmen

Was soll der Sinn des Wirtschaftens sein, wenn nicht, das Leben der Menschen reicher zu machen? Was das genau bedeutet, wie es heute geschieht und was wir in Zukunft besser machen sollten, darüber sprechen wir mit Bettina Hoffmann-Ripken und Andrea Barrueto, Dozentinnen an der HWZ und Autorinnen von «Das Design humaner Unternehmen».

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Bettina Hoffmann-Ripken und Andrea Barrueto (v.l)

Bettina, ihr beginnt euer Buch mit einer Widmung an eure Kinder:

«Wir möchten dieses Buch unseren Kindern widmen, in der Hoffnung, dass sie eine Arbeitswelt erleben werden, in der Unternehmen sich aufgemacht haben, noch stärker eine Kultur der Menschlichkeit zu leben.»

Was bedeutet für euch konkret eine Kultur der Menschlichkeit?

Bettina: Eine Kultur der Menschlichkeit fordert den Menschen heraus, sodass er wachsen und sich entfalten kann. Das geschieht ganz sicher nicht, in dem man nur nett und harmlos miteinander ist. Eine Kultur der Menschlichkeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen Kontext gestaltet, in dem persönliche Entwicklung und organisationale Entwicklung den gleichen Stellenwert haben. Das Schöne an dem Konzept ist, dass Menschlichkeit kein Selbstzweck ist, sondern letztlich auch der Entwicklung der Organisation dient.

Cover Das Design humaner Unternehmen

Das neue Buch von Bettina Hoffmann-Ripken und Andrea Barrueto

Wenn zurzeit keine oder nur eine schwache Kultur der Menschlichkeit in vielen Unternehmen herrscht, wie würdet ihr die aktuelle Kultur bezeichnen und beschreiben?

Andrea: Unserer Meinung nach gibt es nicht eine generelle, aktuelle Kultur. Wir sehen zwei Ausprägungen: entweder wird der Mensch nach wie vor als Arbeitskraft (Arbeits-kraft, eine Kraft, die arbeitet) gesehen und damit sind seine Bedürfnisse den Bedürfnissen der Firma unterzuordnen. Im anderen Fall sind die Bedürfnisse des Menschen wichtiger als das Unternehmen und somit stehen wir auch wieder vor einem Problem.

In Start-ups hingegen, sehen wir motivierte, meist jüngere Unternehmer, welche bei Erfolg persönlich kaum mit dem Wachstum des Start-ups mitkommen. Das heisst, der Erfolg wächst schneller, als dass die Gründer ihre Führungsfähigkeiten entwickeln können.

Das führt dazu, dass das Start-up zuerst die Bedürfnisse der Mitarbeitenden wichtig nimmt und dann plötzlich vor der Herausforderung steht, wie nun trotz allem der finanzielle Erfolg gewährleistet wird. Zusammengefasst werden nach wie vor die Bedürfnisse der Menschen entweder unter oder überbewertet. Ein gesundes Mittelmass wird nur in wenigen Unternehmen gelebt.

Bettina: Wir beobachten, dass in allen Branchen mehr denn je Unternehmen sich mit Unternehmenskultur beschäftigen. Warum ist das so? Weil sie merken, dass Kultur als nicht entscheidbare Entscheidungsprämisse einen Einfluss auf die Qualität ihrer Entscheidungen haben. Anders formuliert: Weil sie merken, dass Menschen anders geführt werden wollen, anders arbeiten wollen und weil sie merken, dass die alten Führungsstrukturen zu langsam sind, dass die gesamte kollektive Intelligenz einer Organisation genutzt werden muss, damit sie langfristig überlebensfähig sein können. Eine Kultur der Menschlichkeit leistet genau dazu einen Beitrag.

«Das Design humaner Unternehmen - Organisationsentwicklung jenseits von Mythos und Harmoniefalle»

Was war der Auslöser, dass ihr euch für das Schreiben dieses Buches entschieden habt. Warum ist dieses Buch relevant?

Andrea: Aufgrund des Lockdowns hatten wir viel mehr Zeit als üblich. Bettina und ich nutzen die Zeit für kollegialen Austausch und im Rahmen dieses Austauschs stiessen wir auf das Thema Menschlichkeit, respektive der Erfahrung, dass wir von so vielen Menschen immer wieder hören, dass sie Menschlichkeit vermissten. Und so fragten wir uns, wie sähe denn eine Organisation aus, die Menschlichkeit zum Kulturprinzip erheben würde. Das Buch ist relevant, weil wir neue Formen der Zusammenarbeit brauchen, die sowohl dem Menschen dient als auch dem Unternehmen. Unternehmen sind bereit sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen, weil sie merken, dass sie die bisherige Arbeitsweise so langfristig nicht trägt. Da spielt auch der Diskurs der Sinnhaftigkeit eine Rolle. Viele von uns haben ein Wohlstand erreicht und merken, dass ihnen doch etwas fehlt.

Bettina: Relevant ist es auch, weil Praktiker und Theoretiker sich einig sind: Eine agile Transformation wird nur mit der Entwicklung einer entsprechenden, gelebten Kultur möglich. Und das Buch gibt eine Antwort darauf, warum eine Kultur Menschlichkeit genau die Kultur ist, die für gelebte Agilität und Selbstorganisation notwendig ist.

HWZ on Air | Ein Podcast über die Sinnkrise am Arbeitsplatz

Steht mehr Menschlichkeit im Unternehmen in Konkurrenz zum Betriebsergebnis? Oder anders gefragt: Für manche bedeutet mehr Menschlichkeit, dass die Menschen einfach weniger arbeiten wollen? Was ist die Antwort?

Bettina: Menschlichkeit heisst nicht Bequemlichkeit – wir glauben nicht, dass viele Menschen grundsätzlich weniger arbeiten wollen – sie wollen nur anders arbeiten. Da wäre jetzt auch interessant zu erfahren, was Menschen mit Arbeit verbinden.

Arbeit kommt aus dem Mittelhochdeutschen und meinte ursprünglich Beschwernis, Leiden, Mühe. Klar, solange Menschen Arbeit als mühsam und leidvoll erleben – was ja über die längste Zeit für die meisten Menschen der Fall war – wäre ein nachvollziehbarer Wunsch, weniger zu arbeiten.

Eine Unternehmenskultur Menschlichkeit hat aber gerade zum Ziel, Arbeit als einen Ort zu gestalten, in denen Menschen sich nicht verstellen müssen und leiden, sondern Freude haben und sich gern einbringen. Aber nicht, um noch mehr aus ihnen herauszuholen, so wie es Unternehmen beispielsweise aus dem Silicon Valley vorgeworfen wird. Vielmehr geht es darum, Arbeit als ein Teil von Leben zu begreifen, nicht als einen Gegensatz, den es auszubalancieren gilt.

Im Buch wird auch ein Blick zurück geworfen, auf die Arbeitsbedingungen und die politische Situation in der Vergangenheit. Warum ist dieses Wissen wichtig für die Gestaltung heutiger Unternehmen? 

Andrea: Es wichtig zu sehen, woher wir kommen und was wir schon alles gelernt haben, um das heute zu verstehen. In dem Zitat von Helmut Kohl – unabhängig davon, wie man zu ihm als Person stehen mag, kommt das gut zum Ausdruck: «Wer die Vergangenheit nicht kennt, versteht die Gegenwart nicht und kann nicht in die Zukunft gehen».

Bettina: Der Blick in die Vergangenheit ermutigt, dass noch sehr viel Entwicklung möglich ist als wir uns vorstellen können. Wenn man vor 100 Jahren Menschen gesagt hätte, wie wir heute in Mitteleuropa arbeiten, hätten die meisten uns vermutlich für Spinner oder Utopistinnen gehalten.

Gibt es einen Generationenunterschied, was Menschen in dieser Hinsicht von Unternehmen erwarten?

Bettina: Von unseren Kunden hören wir, dass Werte wie Verbindlichkeit, Einsatzbereitschaft, Loyalität und auch Leistungsorientierung tendenziell bei der Generation Z nicht so ausgeprägt sind, dafür aber eine hohe Ausrichtung an den eigenen Bedürfnissen und auch eine gewisse Selbstüberschätzung der eigenen Fähigkeiten.

Auch hören wir, dass im Zuge von New Work Führungskräfte zunehmend vorsichtiger führen, weniger kritisieren und herausfordern, weil ihnen suggeriert wird, sie seien für die Motivation der Mitarbeitenden verantwortlich.

Tatsächlich fordert unser Modell der Menschlichkeit sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeitende heraus. Wir halten kritisches Feedback für eine hohe Form der Wertschätzung, wenn es denn in der entsprechenden Haltung und mit dem entsprechenden Mindset gegeben wird. Nochmals, nach unseren Recherchen aus zahlreichen wissenschaftlichen Artikeln möchte der Mensch an sich im Rahmen seiner Möglichkeiten herausgefordert werden und eine Unternehmenskultur Menschlichkeit schafft dafür einen psychologisch sicheren Raum. Uns ist bewusst, dass das ein hoher Anspruch ist.

Andrea: Grundsätzlich stimme ich Bettina zu. Interessanterweise hatte ich gerade zum Semesteranfang diese Diskussion an der HWZ im Bachelor im Fach Selbstführung. Die einstimmige Rückmeldung der Studierenden war, dass sie sich nicht als die «Generation Z» fühlen, wie sie üblicherweise beschrieben wird und sich klar davon distanzieren. Damit steht offen, ob Studierende der HWZ anders sind als der generelle Trend (sie sind bereit für das Studium neben der Arbeit Zeit zu investieren) oder ob sie nicht sehen, dass auch sie von Charaktereigenschaften der Generation Z geprägt sind.

Macht New Work eigentlich alles besser? Wann ist «New Work» nicht gleich «Good Work»?

Bettina: Im Kern meint New Work, Arbeit anders zu denken, nämlich sowohl vom Prozess her (also wie wir arbeiten) als auch vom Inhalt her (womit wir uns beschäftigen). New Work hat den Anspruch, Arbeit so zu gestalten, dass sie als inspirierend, lustvoll und sinnhaft erlebt wird. Good Work würde ich sagen, ist das, was Menschen subjektiv als gute Arbeit bezeichnen – das kann auch sein, weil ich es nicht anders gewöhnt bin, dass ich mit einer sehr hierarchischen Chefin zufrieden bin. Das kann in gewisser Weise bequem sein, ist aber in unserem Sinne nicht human. New Work hingegen impliziert, dass Menschen in Verantwortung gehen und Prozesse nicht top-down gestaltet sind.

Wie können Unternehmen vorgehen, um die Menschlichkeit im Unternehmen zu stärken? Gibt es konkrete Instrumente und Werkzeuge?

Andrea: Das Modell Menschlichkeit umfasst sieben Teilkulturen, die sich gegenseitig beeinflussen und alle zusammen eine Kultur der Menschlichkeit sicherstellen. Wir schlagen in unserem Buch einen konkreten Prozess vor und bieten zahlreiche Methoden und praxiserprobte Workshopformate dazu an. Ein erster Schritt könnte eine Evaluation sein, wie die sieben Teilkulturen in dem Unternehmen gelebt werden. Dazu gibt es zu jeder Teilkultur einen Fragebogen und wir entwickeln gerade ein Online-Umfragetool. In jedem Fall muss der Prozess ganz oben anfangen und strategisch verankert sein, sonst verpuffen solche Kulturinitiativen. Die Treppe kehrt man von oben nach unten. Kulturarbeit ist Chef- und Chefinnensache und die gibt es auch in Organisationen, die sich selbstorganisiert aufstellen, um gleich mal ein grosses Missverständnis über Selbstorganisation aus dem Weg zu räumen!

Was nehme ich als lesende Person und als Angestellter aus dem Buch mit für meinen Arbeitsalltag?

Bettina: Ganz konkret könnte man damit anfangen, mal den eigenen Werten auf die Spur zu kommen und zu schauen, in welchem Wertesystem man selbst verankert ist und in welchem die Organisation, in der man arbeitet. Sehr hilfreich finden wir auch die Arbeit an der Haltung: Die eigene Haltung beschreiben in Bezug auf eine der vorgestellten Teilkulturen, das kann schon sehr erhellend sein. Sich zu überlegen, welche Grundannahmen leiten mich in meinem Verhalten und was wäre, wenn ich eine andere Grundannahme hätte. Das Buch ist eine Quelle der Inspiration, unabhängig von der Rolle, die man in einer Organisation spielt.

Andrea: Wir offerieren sehr viel Hintergrundwissen rund um Organisationen und teilen unsere Erfahrung sehr offen. Das Buch gibt der Leserschaft eine Reihe von Werkzeugen und Hintergrundwissen an die Hand, mit denen sie eine persönliche Entwicklung hin zur Teamentwicklung oder sogar eine grössere Transformation hin zu mehr Menschlichkeit im Unternehmen anleiten kann.